Text: Anja Palesch, lidaa GbR
Wirkungsvoller, lebensfreundlicher, energetischer: Selbstorganisierte Teams in der ambulanten Pflege (SoT) beinhalten viel positives Potenzial. Im Kern geht es dabei um den Abbau von Hierarchie und mehr Verantwortung für Pflegekräfte. Ein Paradigmenwechsel, der den flexiblen Umgang mit zeitlichen, materiellen und personellen Ressourcen ermöglicht. Und den Pflegeberuf insgesamt stärkt.
Der zunehmende Fachkräftemangel und die ständigen Veränderungen stellen auch die ambulante Pflege vor weitere Herausforderungen – und erfordern engagierte Ansätze und Konzepte.
Nicht nur für die Pflegebranche ist das niederländische Modell Buurtzorg Vorreiter. Buurtzorg hat auf Selbstwirksamkeit durch autarke Teams, keine Hierarchien und zufriedene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gesetzt und ist vorerst wirtschaftlich gescheitert. Aktuell sorgt das Unternehmen Kenbi für viel Aufsehen. Auch hier haben die Teams Entfaltungsspielraum, die Coaches gehören zum Team. Und es gibt viele kleine Pflegeteams, die teilweise schon viele Jahre selbstorganisiert arbeiten. Buurtzorg hat nach dem Hackman-Modell versucht, sich selbst zu gestalten. Andere Teams sind mit der Selbstführung recht erfolgreich. Die Erledigung der anstehenden Aufgaben, Gestaltung der eigenen Arbeitsprozesse und die Überwachung der Fortschritte werden von den Mitgliedern eines Selbstorganisierten Teams übernommen. Die Zielvorgaben, die Festlegung des Team- und Organisationskontextes liegen weiterhin in den Händen des Managements.
Wer gehört zum Management?
Das hängt von der individuellen Organisation ab. Bei einem kleinen inhabergeführten PD stellen Inhaber und PDL das Management. In einem großen Wohlfahrtsverband besteht das Management aus allen Entscheidungsebenen, die der PDL weisungsbefugt sind bzw. auf einer Ebene zusammenarbeiten oder sie vertreten würden (auch QMB, andere PDL
Bereichsleitungen und Geschäftsführung bzw. Vorstand).
Warm sind selbstorganisierte Teams zeitgemäß?
In der Wirtschaft geht der Trend seit Jahren in Richtung Agilität. Die vielen Argumente überzeugen auch in der Pflege:
- Senkung des Fachkräftemangels
- Steigerung der Zufriedenheit der Mitarbeitenden
- Bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf
- Senkung des Krankenstandes
- Höhere Kundenzufriedenheit
- Steigerung der Effektivität und Effizienz
- Mehr selbstbestimmtes Arbeiten
- Steigerung der Flexibilität
- Veränderte Fehlerkultur = geringere Fehlerquote
- Förderung des notwendigen Kulturwandels
- Entlastung und Stärkung der Führungskräfte.
Worum geht es?
Im Kern geht es um den Abbau von Hierarchie und mehr Verantwortung der Pflegekräfte für die eigenen Arbeitsbereiche. Dies stellt einen Paradigmenwechsel in der Pflege dar. Eine Umstellung auf diese Arbeitsweise ermöglicht den flexiblen Umgang mit zeitlichen, materiellen und personellen Ressourcen. Dieser Paradigmenwechsel führt zur unweigerlichen Aufwertung des Pflegeberufes und steigert insgesamt das Selbstvertrauen der Pflegekräfte. Den Pflegekräften werden zusätzliche administrative Aufgaben anvertraut. Die damit verbundene Übernahme von Verantwortung führt unter Berücksichtigung weiterer Bedingungen zur Stärkung
des Kohärenzgefühls – was Teil des Modells der Salutogenese ist. Durch die Stärkung des Kohärenzsinns werden seelische Gesundheit und Umgang mit großen Herausforderungen positiv beeinflusst. Weitere Faktoren sind die individuellen inneren und äußeren Widerstandsressourcen.
Pflegekräfte gezielt stärken
Der Einfluss auf den Kohärenzsinn erfolgt in drei Bereichen:
- Verstehbarkeit der eigenen Person und der Umwelt (comprehensibility) = Diese Handlung ist jetzt wichtig/nicht so wichtig, weil.?
- Gefühl der Bedeutsamkeit und Sinnhaftigkeit (meaningfulness) = Mir wird Vertrauen entgegengebracht. Meine Leistung wird geschätzt.
- Handhabbarkeit und Bewältigbarkeit (manageability) = Ich bin an der Entwicklung von Prozessen, der Reflexion bestehender Vorgaben und neuen Regeln aktiv beteiligt. Ich kann diese Aufgaben selbstbestimmt erledigen und mir Hilfe holen.
Als Ergebnisse der Umsetzung dieser Teilbereiche sind eine langfristige Senkung des Krankenstands und die sinnvolle Reduzierung bestehender Regeln und Vorgaben möglich. Selbstorganisierte Teams ermöglichen Motivation durch mehr Verantwortung und Mitsprache. Der Sinn einer Arbeit – z.B. Arbeit mit Menschen – ist inkludiert. Daher ist die Einführung des Modells Selbstorganisierte Teams in der Pflege wirkungsvoller, lebensfreundlicher und energetischer als alle anderen bisherigen Modelle.
Mitarbeitende im Prozess mitnehmen
Diese Umstellung gelingt nur, wenn das Management sich der großen Anstrengung bewusst und fähig ist, die anfängliche Ablehnung von Veränderungen aktiv als Synergie zu nutzen. Dieser Paradiqmenwechsel erfordert gerade auch vom Management in hohes Maß an Reflexionsfähigkeit, Belastbarkeit, Klarheit, Ehrlichkeit, Standhaftigkeit. Mitarbeitende lassen sich i.d.R. schnell darauf ein, wenn ihnen ihr persönlicher Mehrwert vermittelt werden kann und sie die Unterstützung des Managements tatsächlich spüren. SoTs in der Pflege arbeiten lösungsorientiert nach den Grundsätzen: „Wenn etwas funktioniert – mach mehr davon!“, „Wenn etwas nicht funktioniert, wiederhole es nicht! Mach etwas anderes!“, „Repariere nicht, was nicht kaputt ist.“
Konzept und Projektplan
Als Grundlagen dienen in individuelles Konzept und der Projektplan. Beides sollte von Anfang an als Information zur Verfügung stehen. Die Rahmenbedingungen werden durch das Management erarbeitet. Außerdem sollte schon vor Einführung des SoT bei allen Führungskräften um Akzeptanz geworben werden, verunsicherte Führungskräfte sorgen für unnötige Unruhe.
Hilfreiche Fragestellungen lauten z.B.:
- Welchen Mehrwert hat die Veränderung für die Mitarbeitenden, die PDL, das Management und für Kunden?
- Wer unterstützt das Management/PDL/Mitarbeitende im Veränderungsprozess?
- Welche Voraussetzungen müssen noch geschaffen werden, damit der Start des Projektes gut gelingt?
- Was wird dieser Kulturwandel kosten? Steen diese Mittel zur Verfügung?
- Soll eine Förderung beantragt werden (z.B. möglich über den GKV, in NRW auch Potenzialberatung)?
- Wer kann den Prozess als externer Berater begleiten?
- Wer erstellt Konzept und Projektplan?
- Wer hat die Projektverantwortung?
- Wie gelingt es, möglichst viele Beteiligte in dem Prozess mitzunehmen?
- Wie werden Fortschritte überprüft und wer macht das?
- Wie wird mit Fehlern/Problemen umgegangen?
Zusammenarbeit zwischen Management und Coach
Die Aufgaben des Managements und des Coachs sollten zu Beginn vertraglich festgelegt werden und transparent sein. Spätestens beim Umgang mit den ersten Lernschleifen, punktueller Überforderung und den zu erwartenden Widerständen sorgt Klarheit für Entspannung. Dafür ist ein hohes gegenseitiges Vertrauen zwischen Management und Coach unabdingbar. Die Zusammenarbeit mit einem freiberuflichen, systemisch ausgebildeten Coach ist sinnvoll, da:
Zu Beginn des Projektes meist ein hoher Aufwand entsteht. Der Aufwand im Projektverlauf schwankt. Ein freier Coach eine neutrale Perspektive hat. Ein freier Coach sich anders abgrenzen und Supervision nutzen kann, ohne dies mit Auftraggeber abzustimmen. Ein freier Coach für seine fachliche Expertise und deren Weiterentwicklung selbst verantwortlich ist. Die Einrichtung frei wählen kann. Ein freier Coach neutral ist und bei Konflikten als Vermittler dient.
Mögliche Vorgehensweise
Die Arbeit beginnt mit der Entwicklung von Zielen, Regeln und teaminternen Ressourcen. Die Erarbeitung notwendiger Aufgaben und deren schrittweise Verteilung folgen. Alle Schritte sind notwendig, um tatsächlich die Teamwirklichkeit abzubilden und alle Mitglieder des Teams mit einzubeziehen. Folgende Aufgaben-Arten müssen verteilt werden:
- Anforderungen des MDK
- Unternehmensübergreifende Anforderungen (z.B. Dienstplangestaltung, Urlaubsplanung entsprechend der Unternehmenssoftware)
- Gesetzliche Vorgaben
- Standort- und teambezogene Aufgaben.
Rolle/Aufgaben des Managements
Das Management muss bereit sein, bisherige Aufgaben und Verantwortlichkeiten schrittweise abzugeben. Das ist eine große Umstellung, bei der das Management ebenfalls regelmäßig durch externes Coaching unterstützt werden muss. Konkret bedeutet dies, dass nicht mehr das Management viele Lösungen erarbeitet, sondern es stellt „nur“ die Rahmenbedingungen zur Verfügung, gibt regelmäßig konstruktives Feedback, führt das Controlling durch, unterstützt bei der Schulung und Übernahme der neuen Aufgaben.
Schlüsselrolle der Pflegedienstleitung
Die PDL unterstützt die Teams mit fachlichem Input (z.B. zur Dienstplangestaltung, beim Kontakt mit externen Dienstleistern, bei Überprüfung der Expertenstandards) und führt z.B. regelmäßige Pflegevisiten bei allen Pflegefachkräften durch. Dabei können mehrere Standorte durch eine PDL betreut werden. Die fachliche Verantwortung kann nicht abgegeben werden. So entwickelt sich die PDL zum Prozessbegleiter, ggf. Wissensvermittler und zur Kontrollinstanz/zum Feedbackgeber. Nicht nur viele pflegerische Herausforderungen können z.B. in regelmäßigen kollegialen Beratungen gelöst, sondern auch alle sinnvollen Anpassungen von Prozessen, Abläufen und Regeln. Alle Themen werden offen im Team besprochen und die PDL unterstützt, wenn wichtige Informationen (z.B. rechtliche Vorgaben bei der Dienstplangestaltung) fehlen. Die Moderation der Teamsitzungen erfolgt in Eigenregie des SoT. Die PDL wird z.B. eingeladen, erhält die Agenda und alle Protokolle, auch in Abwesenheit.
Fehlende, unvollständige und veraltete Informationen führen dazu, dass die Mitarbeitenden die Motivation verlieren. Die PDL und auch das Management müssen allen Mitarbeitenden auf Augenhöhe begegnen können. Neben einer angemessenen Schulung und Einarbeitung in die Dienstplanerfassung müssen auch die technischen Voraussetzungen geschaffen werden.
Management hat Vorbildfunktion
Die Motivation der Mitarbeitenden entsteht auch durch die Veränderungen beim Management. Das beginnt mit der regelmäßigen Information aller Mitarbeitenden zum Kulturwandel, über veränderte Stellenausschreibungen und regelmäßiges Coaching der Teams. So wird langfristig wertvolles Wissen im Unternehmen erworben, gebündelt und mit Hilfe des externen Coachings ergänzt, um die einzelnen Teams und neu gewonnenen Mitarbeitenden zu unterstützen. Selbstorganisierte Teams in der Pflege können nur erfolgreich sein, wenn eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe möglich ist. Dann werden die Teams eigene, tragfähige Lösungen entwickeln. Denn die kreative Lösungsfindung ist in vielen Teams stark ausgeprägt. Eine gute Selbstorganisation und das Führen mit Vertrauen kann nicht mit einmaligen Fortbildungen, Gehaltserhöhungen, Gutscheinen für Massagen oder ähnlichem bewirkt werden.
Kulturwandel einleiten
Die Vorteile dieses Kulturwandels im Führungsverhalten sind so enorm, dass sich der Aufwand für jede Einrichtung langfristig lohnt. Sichtbar wird der Kulturwandel z.B. in der externen und internen Kommunikation. Ein Unternehmen, das in den Stellenausschreibungen mit diesem Kulturwandel wirbt und aktiv Führungskräfte einstellt, die Teams unterstützen, ist wirklich zu einem Wandel bereit. Manchmal ist dieser Weg kurvenreich und beschwerlich. Der Kulturwandel wird möglich, wenn das Management genügend Mut, Kraft, Geduld, Reflexionsfähigkeit und Vertrauen hat.
Steiger Lernprozess
Die erfolgreiche Umsetzung von Selbstorganisierten Teams in der Pflege erfordert einen stetigen Veränderungs- und Lernprozess. Dieser beginnt immer beim Management. Die Verantwortlichen müssen erkennen. welchen Mehrwert die Arbeit in Selbstorganisierten Teams für sie persönlich und auch für das Unternehmen hat. Sie müssen offen sein für diesen Führungs- und Kulturwandel. Die Führungsrolle, die vielleicht schon viele Jahre verinnerlicht wurde, wird sich enorm verändern. Die bisher in Ausbildungen vermittelten Aufgaben und Rollen z.B. für PDL werden nun Frage gestellt SoT bietet die Möglichkeit, einen Kulturwandel zu bewirken, um die aktuellen vielfältigen Herausforderungen zu meistern. Der Weg dahin erfordert Mut, Ausdauer und Standhaftigkeit – und er lohnt sich.
Quelle: Zeitschrift „Häusliche Pflege“, Ausgabe 07/2022
Anja Palesch: Systemische Beraterin/Supervisorin, Diplom-Pflegewissenschaftlerin, exam. Krankenschwester, Fachbuchautorin und Herausgeberin, Inhaberin von „Fachkräftesicherung im Gesundheitswesen“